»Keiner ist wieder hergezogen«
Rheinau-Freistett. Die jahrhundertealte Geschichte der Juden in Rheinau verliert sich in der Nazizeit. Manche sind rechtzeitig ausgewandert. Die verbliebenen Männer kamen 1938 vorübergehend ins KZ Dachau. Wer 1940 noch hier lebte, wurde deportiert nach Gurs in Südfrankreich und von dort 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz. Wer vorher unter Zurücklassung von allem auswandern konnte, hatte Glück und kam mit dem Leben davon. Zurückgekehrt ist von den vor Kriegsbeginn über 100 Juden keiner. Niemand, der aus erster Hand von den Schrecken erzählen und mahnen könnte, niemand, der ihre Geschichte »weiterschreibt«.
Gerd Hirschberg ist weder Jude, noch Zeitzeuge, und nicht einmal gebürtiger Rheinauer. Als der heute 65-jährige Psychologe 1984 mit seiner Familie nach Freistett zog, entdeckte er den unscheinbaren jüdischen Friedhof mit seinen rund 600 Gräbern im Kreuzungsbereich der B 36 und L 87, auf den kein Schild hinwies. Damals begann für ihn eine mittlerweile rund 25-jährige aufwendige Recherche über das Leben der Juden vor Ort.
300 Seiten Geschichte
»Mir ist wichtig, die Vernichtung der jüdischen Gemeinden Freistett und Rheinbischofsheim nicht durch Stillschweigen im Nachhinein mitzutragen«, sagt Hirschberg. Ganz ohne erhobenen moralischen Zeigefinger, aber in tiefem Bewusstsein, dass seine Arbeit auch heute, viele Jahre später, wichtiger ist denn je.
Das Ergebnis seiner Recherche, die mit der Entstehungsgeschichte des Freistetter Judenfriedhofes begann, ist ein Aktenordner mit rund 300 Seiten – von der ersten Ansiedlung von Juden in Rheinau gegen 1700 bis zu ihrem tragischen Ende unter Adolf Hitler. »Es ist kein einziger überlebender Jude wieder hierhergezogen«, weiß Hirschberg.
Seine Suche führte den Hobby-Historiker ins Generallandesarchiv Karlsruhe, ins Staatsarchiv Freiburg und ins Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Jetzt plant er, seine Arbeit mit Unterstützung der Stadtverwaltung in Buchform herauszubringen. Seine große Hoffnung ist dabei auch, Kontakte zu überlebenden Rheinauer Juden und ihren Nachfahren zu knüpfen und so mehr über ihre Geschichte zu erfahren.
»Das Verhältnis von Juden zu Nichtjuden war bis zu den Nazis nicht belastet«, sagt Hirschberg. Weil sich damals praktisch niemand den Faschisten in den Weg stellte, schämten sich im Nachhinein viele Menschen für das, was geschah, und das führe dazu, dass sie die Ereignisse verdrängten und schwiegen, deutet der Psychologe. Obwohl sie nicht »judenfeindlich« seien, sei die Auswirkung genau das.
»Klare Worte sind nötig«
Dass seine eigenen Recherchen mitunter auf gewisse Vorbehalte in der Bevölkerung stoßen, ist für Hirschberg nicht neu. »Das darf man nicht dabei belassen«, sagt Hirschberg und verweist auf jüngste Projekte und Initiativen, etwa das Mahnmal vor der Kirche in Rheinbischofsheim, den 2008 nach langem Widerstand aufgestellten Gedenkstein auf dem Freistetter Marktplatz, engagierte Lehrer und Schüler im Anne-Frank-Gymnasium, die bereits einige Aktivitäten gestartet hätten, aber auch das Bündnis »Bunt statt braun«.
»Für mich gibt es nichts, was nicht politisch ist«, sagt Gerd Hirschberg auf die Frage, ob ihm manchmal nicht eine beherztere Stellungnahme aus seinem Umfeld fehlt – etwa, wenn wieder Neonazis am »Panzergraben« aufmarschieren und andere schweigen.
Recherchen
Nachfolgend einige Fakten, die Gerd Hirschberg über das Leben der Juden in Rheinau zusammengetragen hat:
Ab circa 1700 ließen sich Juden in Bodersweier, Rheinbischofsheim, Freistett und Lichtenau nieder, nachdem sie vom Grafen von Hanau-Lichtenberg eine Niederlassungsfreiheit erhalten hatten.
Die »Blütezeit« der Juden in Rheinau war gegen 1870. Damals waren sieben Prozent der Bewohner in Neufreistett und 15 Prozent in Rheinbischofsheim Juden.
In Rheinau waren sie vor allem Vieh- und Seegrashändler, da sie weder Grunderwerb besitzen noch einer Zunft beitreten durften.
1933 lebten in Freistett 39 und in Rheinbischofsheim 84 Juden. 1935 löste sich die jüdische Gemeinde in Freistett auf und vereinigte sich mit Rheinbischofsheim. Wohl nach dem Novemberpogrom wurde die Freistetter Synagoge abgerissen. In der Synagoge in Rheinbischofsheim wurde der Gottesdienstraum verwüstet, aber nicht das ganze Gebäude, weil hier auch eine christliche Frau lebte. 1940 wurden die letzten verbliebenen Juden in Rheinau deportiert. Vermutlich zahlten neun Freistetter und zwölf Rheinbischofsheimer Juden den Nazi-Terror mit dem Leben
Zur Person
Gerd Hirschberg, Jahrgang 1948, stammt aus der Region Mannheim und ist in einem evangelisch geprägten Elternhaus aufgewachsen. Seine erste Begegnung mit dem Nazi-Terror erlebte er in den 50er Jahren als kleiner Junge beim Besuch des KZ Bergen-Belsen. Sein Vater engagierte sich in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, reiste öfters nach Israel und hatte engen Kontakt zur Mannheimer Jüdischen Kultusgemeinde.
Mit dem Verlassen des Elternhauses nach dem Schulabschluss »pausierte« Gerd Hirschbergs aktives Interesse an der jüdischen Geschichte in Deutschland – bis er 1984 als Wahl-Freistetter auf den Friedhof der Gemeinde stieß.