Dörte Hansens „Mittagsstunde“ im ZDF

Kuddelmuddel in Brinkebüll

Ulla Hanselmann
Lesezeit 4 Minuten
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25. August 2024
Ella (Hildegard Schmahl) gibt gegenüber Ingwer (Charly Hübner) ein Geheimnis preis.

Ella (Hildegard Schmahl) gibt gegenüber Ingwer (Charly Hübner) ein Geheimnis preis. ©Foto: ZDF/Christine Schröder

Das ZDF zeigt Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens Bestsellerroman „Mittagsstunde“. Erzählt wird vom krassen Wandel eines nordfriesischen Dorfes, einer komplizierten Familie und von Ingwer Feddersen – umwerfend gespielt von Charly Hübner.

Die Mittagsstunde, das war mal die Zeit, in der sich redlich mühende Landbewohner aufs Ohr gehauen haben, weil schon ein Gutteil des Tagwerks getan war. Und mit ihrem Nickerchen, ohne es zu ahnen, die Hintertür für die Heimlichkeiten ihrer Mitmenschen öffneten. Die Zeiten sind vorbei.

„Mittagsstunde“ ist der zweite Roman von Dörte Hansen („Altes Land“), in dem sie von diesen vergangenen dörflichen Zeiten erzählt. Und genau wie die Nordfriesin Hansen erzählt auch ihr Landsmann Lars Jessen, der ihr Buch 2022 ins Kino brachte, auch noch einiges mehr – und es ist ein Gewinn, ihm zuzusehen.

Die Sache mit der Flurbereinigung

So schildert sein stiller und stimmungsvoller Film, der jetzt im ZDF zu sehen ist, am Beispiel des fiktiven nordfriesischen Brinkebüll, wie die Dörfer als soziales und geografisches Gebilde sich seit den sechziger Jahren verwandelten, besser: strukturwandelten. Wie Landschaften, Felder und Wiesen zu flurbereinigten, ertragssteigernden Flächen wurden; wie gewachsene Ortskerne sich begradigten und entleerten, um nurmehr dem Durchgangsverkehr und den Monster-Traktoren der sogenannten modernen Landwirtschaft zu dienen.

Ingwer will im Gasthof Feddersen nach dem Rechten sehen: Charly Hübner
Foto: ZDF/Christine Schroeder

Er erzählt auch, was für ein „Kuddelmuddel“, ja, was für eine verwinkelte und uneinsehbare Angelegenheit eine Familie sein kann. Im Fall von „Mittagsstunde“ ist es die der Feddersens, zu der Sönke, Wirt des Brinkebüller Gasthofs, zählt, seine Frau Ella und deren Tochter Marret (Gro Swantje Kohlhof). Ein versponnenes Mädchen, von dem die Dorfbewohner sagen, es sei „verdreht“ und damit seine leichte geistige Behinderung meinen. Und dann ist da noch Ingwer Feddersen (Charly Hübner), der anstatt den Gasthof – „Krog“ auf Platt (und es wird immer wieder platt gesprochen) – zu übernehmen, das Weite gesucht hat, in Kiel Archäologieprofessor ist und dort mit Claudius und Ragnhild in einer nicht genau definierten Beziehung lebt, wobei er in dieser Dreier-WG nicht wirklich eine Heimat gefunden zu haben scheint.

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Warum kehrt Ella immer zum alten Schulhaus zurück? Hildegard Schmahl und Charly Hübner
Foto: ZDF/Christine Schroeder

Und schlussendlich geht es auch darum, wie sich der auf die fünfzig zugehende Ingwer in einer schwierigen Lebensphase berappelt, Anlauf nimmt und mit sich und seiner Herkunft ins Reine kommt. Dafür kehrt er nach Brinkebüll zurück, wo er sich endlich um „die Alten“, wie er sie nennt, kümmert. Während Vadder Sönke (Peter Franke; den jüngeren Sönke verkörpert Rainer Bock) noch wacker hinterm Tresen steht, sucht Muddern Ella (Hildegard Schmahl und – in den Jahren 1965 bis 1976 – Gabriela Maria Schmeide) in Folge ihrer Demenz das Weite, gedanklich oder körperlich, und dann muss man sie entweder gerade noch rechtzeitig zurück von der Straße holen, bevor ein Monster-Truck sie überfährt, oder beim Schulhaus suchen, wo früher auch der Lehrer wohnte. Dass Ingwer die Großeltern Vadder und Mudder nennt, gehört mit zu diesem Teil der Geschichte.

„Na, wat sechst du?“

Noch komplizierter wird es, weil Jessen all diese Themen auf mehreren Zeitebenen verhandelt, die sich von der Mitte der Sechziger über die Siebziger bis ins Jahr 2012 erstrecken. Dass das dabei entstehende Erzählgebilde nicht wie ein schlecht geschichteter Brennholzhaufen zusammensackt, liegt daran, dass konsequent aus der Sicht Ingwers erzählt wird.

„Mittagsstunde“ ist eine Geschichtsstunde über den Wandel der Provinz im Nachkriegsdeutschland und eine Geschichte der Selbstfindung, und beides ist meisterhaft miteinander verknüpft. Und damit ist man auch schon bei dem, was den Film seine neunzig Minuten lang trägt – bei Charly Hübner und seiner wunderbar nach innen gekehrten und dabei so ungeheuer viel nach außen transportierenden Spielweise, die in fast jeder Einstellung klar macht: Worte werden überschätzt. Eine Erkenntnis, die alle Nordfriesen, wie es scheint, mit der Muttermilch aufgesogen haben. Als Ingwer seinen Jugendfreund Heiko (Jan Georg Schütte), der als Line-Dance-Lehrer seine Erfüllung gefunden hat, nach Jahrzehnten wiedersieht, sagt der nur: „Na, wat sechst du?“.

Mittagsstunde: Montag, 20.15 Uhr, ZDF. In der ZDF Mediathek abrufbar.

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