Auf dem Ostberliner Alexanderplatz sangen sie «Halleluja D-Mark», Raketen und Sektkorken flogen in die Nacht. Einige waren entsetzt über das Gedränge Tausender Menschen vor den Schaltern der Deutschen Bank, die ab Mitternacht als erste die neue Währung ausgab. 13 Leute erlitten vor lauter Schieben und Drücken und Aufregung einen Kreislaufkollaps. Aber da war diese unglaubliche Euphorie. «Die D-Mark ist gekommen», rief eine Passantin in ein Radiomikrofon. Und eine andere: «Die Stunde Null für uns. Es beginnt ein neues Leben, und das ist schön.»

Tatsächlich begann an diesem 1. Juli 1990 das beispiellose volkswirtschaftliche Experiment der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion von DDR und Bundesrepublik. DDR-Bürger tauschten ihr Erspartes teils eins zu eins, teils zwei zu eins in D-Mark. Alle Löhne, Renten und Mieten wurden eins zu eins umgestellt. Drei Monate vor der Deutschen Einheit galten plötzlich die westdeutschen Regeln der sozialen Marktwirtschaft in der DDR, und das nach vier Jahrzehnten Planwirtschaft. 35 Jahre später ist klar: Die Sache lief nicht rund. Die Folgen dieses dramatischen Umbruchs sind bis heute spürbar, politisch und ökonomisch. Aber gab es eine Alternative?

Die Bundesbank warnte

Joachim Ragnitz vom Ifo Institut in Dresden erinnert daran, dass es durchaus Warner und Mahner gab und andere Ideen. Die Bundesbank etwa habe nach der friedlichen Revolution in der DDR vom Herbst 1989 einen Stufenplan zur wirtschaftlichen Annäherung gewollt. Davon sprach anfangs auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Aber schon im Februar 1990 gab Kohl das Ziel einer Währungsunion aus. Am 18. Mai unterzeichneten beide Regierungen einen Vertrag. Sechs Wochen später galt er. Eine «Schocktherapie», sagt Ragnitz.

Kohl stimmte zwar in seiner Fernsehansprache zum 1. Juli 1990 auf eine «gewiss nicht einfache Zeit des Übergangs» ein. Aber letztlich verbreitete der Kanzler fast so viel Euphorie wie die DDR-Bürger auf dem Alexanderplatz. «Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.» Blühende Landschaften, Kohls bekanntestes Schlagwort auf dem Weg zur deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990.

Produktion weg, Jobs weg

Sehr schnell aber sahen viele eher eine wirtschaftliche Trümmerlandschaft. «Schon in den wenigen Monaten seit Einführung der D-Mark haben die Betriebe der ehemaligen DDR ihre Produktion drastisch einschränken müssen», hielten die Wirtschaftsweisen im Jahresgutachten 1990/91 fest. «Allein seit Juni hatsich die Industrieproduktion um rund ein Drittel vermindert. Viele Betriebe werden ganz aus dem Markt scheiden, weil ihre Produkte im Wettbewerb mit den besseren und preiswerteren westlicher Anbieter nicht bestehen können.» Auch in der DDR wollte vorerst niemand mehr Trabbis, Spee oder Spreewaldgurken. Es lockte eine neue Glitzerwelt im Supermarktregal.

Westbetriebe kaputt gemacht

In der DDR brach die Zahl der Beschäftigten in Industrie und Bauwirtschaft im dritten Quartal 1990 - also direkt nach der Währungsunion - um 17 Prozent ein. Und das war erst der Anfang. Es begannen die für viele so traumatischen Jahre der Entlassungen, Umschulungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Zeitweise erreichten die Arbeitslosenquoten 20 bis 25 Prozent.

Ifo-Experte Ragnitz nennt eine Reihe von Gründen für diesen Kollaps. Der «produktive Kapitalstock» sei veraltet gewesen, also die Maschinen und Anlagen, die Produktivität viel geringer als im Westen. Und die Einführung der D-Mark großteils im Verhältnis eins zu eins machte alles schlagartig teurer. «Der wahre Wert der DDR-Mark wäre vier zu eins gewesen», sagt Ragnitz. Die DDR habe Waren im Wert von einer Mark exportiert und damit 25 Pfennige erlöst. Nach der Währungsunion sollten diese Produkte dann eine D-Mark kosten. Eine so große Aufwertung hätte auch jedes Unternehmen im Westen kaputt gemacht, sagt der Experte.

«Keine ökonomische Entscheidung»

Aber warum hat man es dann nicht anders gelöst - in kleineren Schritten, mit einem sanfteren Übergang? «Es bestand die Gefahr, dass die DDR ausblutet», sagt der Historiker Robert Grünbaum von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der damals oft zitierte Spruch «Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr» zeigte sich schwarz auf weiß in der Statistik: Im Januar 1990 seien 200.000 Menschen von der DDR in die Bundesrepublik gezogen, sagt Grünbaum, auch danach immer noch Tausende pro Woche.

«Es ging darum, den DDR-Bürgern ein glaubhaftes Zeichen zu geben, das sie zum Bleiben bewegt», sagt Grünbaum. «Das war keine ökonomische, sondern letztlich eine politische Entscheidung, ein Signal zur Beruhigung.» Das hätte man bei offenen Grenzen weder verschieben können, noch wäre politisch ein schlechterer Wechselkurs möglich gewesen. Auf Demos wurde Augenhöhe eingefordert: «Eins zu eins, oder wir werden niemals Eins.» Grünbaum ist sicher, der wirtschaftliche Kollaps wäre so oder so gekommen, wenn auch vielleicht etwas langsamer: «Die DDR war schlicht und einfach bankrott.»

Im Westen ein Boom

Die Westdeutschen erlebten das alles sehr anders. Die Sehnsucht der DDR-Bürger nach Westprodukten, die nahezu unbegrenzte Zahl neuer Arbeitskräfte aus dem Osten, all das beflügelte in der Bundesrepublik einen Boom. Die Wirtschaftsweisen vermerkten für 1990 ein Wachstum im Westen von 4 Prozent - im Vergleich zu 2,8 Prozent im Durchschnitt der Jahre davor. Die Sonderkonjunktur hielt nicht sehr lange. Aber die wirtschaftliche Kluft blieb jahrzehntelang. Lücken gibt es bis heute etwa bei Produktivität, Löhnen, Renten und Vermögen.

Liegt hier der Keim für Bitterkeit und Zweifel, für das Gefühl vieler Ostdeutscher, über den Tisch gezogen worden zu sein? Grünbaum widerspricht. «Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, das ist etwas, was die DDR-Bürger aus der DDR mitgenommen haben», meint der Historiker. Man habe schon vor der Wende den Wohlstand im Westfernsehen gesehen, habe im Urlaub in Ungarn gespürt, dass Westdeutsche mit ihrer harten D-Mark anders behandelt worden seien.

«Das hat man richtig genossen»

Das zumindest schien nach dem 1. Juli 1990 vorbei. «Die Westmark, das war irgendwie ein euphorisches Gefühl», erinnert sich der Magdeburger Wolfgang Tonn auf der Plattform Zeitzeugen.de. «Jetzt sind wir wer, jetzt haben wir dasselbe Geld, was praktisch in der Bundesrepublik zum Wirtschaftswunder geführt hat. Und das hat man richtig genossen.»

dpa