Wie erhellend, spannend und historisch wirksam es sein kann, wenn Religion und Recht zusammenkommen, konnten am Montag etwa 200 Zuhörer in der Stadthalle Kehl erleben. Die evangelische Kirchengemeinde Kehl hatte den früheren Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof eingeladen, zum Thema „Der Auftrag der Kirchen in einem freiheitlichen Verfassungsstaat“ zu sprechen. Der kraftvolle Aufruf des Juristen an jeden einzelnen, aus der „demokratischen Migräne“ unserer Gesellschaft aufzustehen und das Freiheitsangebot der Verfassung verantwortungsvoll anzunehmen, weckte großes Interesse und Begeisterung.

Verfassung bejahen

In einem längeren ersten Teil zeigte Kirchhof auf, welchen Einfluss das Christentum mit seinen Werten auf die Entstehung unserer Verfassung einst hatte; in einem zweiten Teil entfaltete er programmatisch, inwiefern das Christentum von seiner Botschaft her weiterhin zu einer inneren Bejahung der Verfassung und einem verantwortlichen Umgang mit ihr motiviert.

Die Verfassung wurde nach 1945 unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen der Bevölkerung und ohne staatliche Strukturen entwickelt. Der erste Leitgedanke des Grundgesetzes ist die Freiheit, die in der Würde jedes Menschen gründet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 1 des Grundgesetzes wurzelt in der jüdisch-christlichen Überzeugung, dass jeder Mensch von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen ist, und er setzt diese Überzeugung in rechtliche Form um. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es ausdrücklich, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist, wie Prof. Kirchhof betont, „der radikalste Freiheitssatz der Rechtsgeschichte“. Die Verfassung bietet die Freiheiten an; sie müssen aber auch angenommen werden. Es ist die Aufgabe der Bürger und Bürgerinnen, die Fähigkeiten zu erwerben, um rechten Gebrauch von den Freiheiten zu machen.

Ganze Zukunft

„Denn der freiheitliche Staat gibt seine ganze Zukunft in die Hand der Menschen, die sich ohne Leitung des Staates für ihre Freiheit engagieren, weil das für sie und in der Summe auch für den Staat gut ist.“ Das ist ein riskantes Unterfangen; Freiheit kann auch an der Freiheit scheitern. Deshalb ist es wichtig, nicht nur die Menschenrechte als Früchte eines Baumes in den Blick zu nehmen, sondern auch den Baum selbst. Hier spielen die Kirchen eine besondere Rolle, weil der Kern der Verfassung, die Würde des Menschen, ihrer Überzeugung vom Menschen als Ebenbild Gottes entspricht.

Der zweite Leitgedanke der Verfassung ist der des Friedens. Im Innern verzichten die Bürger auf Gewalt und lösen ihre Konflikte durch sprachliche Auseinandersetzung, notfalls durch Rechtsprechung. Im Äußeren ist der Angriffskrieg verboten. Das entspricht der christlichen Friedensbotschaft (Weihnachtsgeschichte). Weiter stellt sich die Frage, wie die wirtschaftlich produzierten Güter verteilt werden. Die entstehende Soziale Marktwirtschaft hat ihre Impulse aus der christlichen Soziallehre aufgenommen. Sie war ursprünglich am Konsumenten und der Befriedigung seiner Bedürfnisse orientiert, nicht an der Maximierung von Gewinn. Das Existenzminimum sollte gesichert werden, aber durch Bildungschancen sollte jeder die Möglichkeit haben, einen möglichst guten Gebrauch von seinen Freiheiten zu machen. Über die Wirtschaft hinaus sollten die Menschen in den Kulturstaat und als Wahlberechtigte in die Demokratie integriert werden.

Vom Wesen der Kirchen her ergibt sich nach Kirchhof ihr Auftrag, in folgender Weise zur Gestaltung der Lebenswirklichkeit der Menschen beizutragen; das stärkt dann den Baum, auf dem die Verfassung ruht und motiviert zu ihrer Verteidigung. Der Referent nannte sieben Aspekte: 1. die Friedensbotschaft der Kirchen; 2. das Gebot der Nächstenliebe; 3. die Vermittlung des christlichen Bildes vom Menschen mit der Konsequenz, dass jeder in der betreffenden Rechtsordnung als Mensch willkommen ist, wer er oder sie auch sei; 4. das Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, das motiviert, das Rechte zu tun, auch wenn es keine kontrollierende Instanz gibt; 5. die Religion als Erlebnisform hält daran fest, dass die Grenzen unseres Wissens nicht die Grenzen der Welt sind; 6. die Religion lehrt uns, über unsere eigene Existenz hinaus zu denken; es gibt keine Hochkultur ohne Religion; 7. Glaube schafft Vertrauen und Trost; ohne Vertrauen können wir nicht gut zusammen leben. So tragen die Kirchen durch ihre Existenz und ihr Wirken dazu bei, dass das großartige Freiheitsangebot des Grundgesetzes angenommen und nicht verspielt wird. In der auf den Vortrag folgenden Diskussion konnte Prof. Kirchhof weiter führende Antworten aus seinem großen Erfahrungsfundus geben.

Zu Beginn stellte OB Wolfram Britz in seiner Begrüßung zahlreiche mahnende Bezüge zwischen der braunen Geschichte Deutschlands ab 1933 und den gegenwärtigen politischen Kontroversen her. Der Vortrag von Kirchhof war eine Sternstunde in der Vortragsreihe „Christen – Juden – Muslime. Religionen in den aktuellen Konflikten“ der Evangelischen Kirchengemeinde.