Ziel des Gesprächs solle es sein, die Verfassung lebendig werden zu lassen und aus dem politischen Geschehen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, meinte Hans-Ulrich Müller-Russell, der mit einem Impulsreferat in das Thema einführte. Bedauerlich sei das geringe Interesse in der Öffentlichkeit an Verfassungsfragen in einer Zeit, in der Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr seien, meinte er. Das könne mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zu tun haben. Es sei als Provisorium gedacht gewesen – deshalb der Name Grundgesetz – und im Schulunterricht zunächst wenig bis gar nicht behandelt worden.
Ein "Aufreger"
Vielleicht sei die Kanzlerwahl auch deshalb in der Öffentlichkeit ein „Aufreger” gewesen. Es habe schon eher bei Kanzlerwahlen Abweichler gegeben, die von der Parteilinie abgewichen seien und sich nicht öffentlich dazu bekannt hätten. Die Regelung des Grundgesetzes über die Kanzlerwahl fördere das, weil der Bundespräsident den Kandidaten im ersten Wahlgang vorschlage und eine Aussprache ausdrücklich ausgeschlossen sei.
Im Stammtischgespräch war das Verhalten der Abweichler umstritten. Einig war man sich dagegen in der Bewertung der Prozedur vor dem zweiten Wahlgang. Dass erst mit einer Zweidrittelmehrheit die Geschäftsordnung überwunden werden musste, beruhte auf einer offenbar veralteten Vorschrift. Sie bestimmt, dass über einen Wahlvorschlag erst abgestimmt werden kann, wenn drei Tage seit Verteilung der Drucksache vergangen sind.
Die Koalitionsverhandlungen von CDU, CSU und SPD wurden anschließend an den Thesen gemessen, die Thomas de Maizière in seinem 2019 erschienenen Spiegel-Bestseller „ Regieren – Innenansichten der Politik” veröffentlicht hat. Danach sind die Verhandlungen vor allem eine Domäne der Fachleute mit einem breiten Fachwissen auf mehreren Sachgebieten. Allerdings gehe in den Arbeitsgruppen Schnelligkeit oft vor Gründlichkeit, weil die Bevölkerung nach einem langen Wahlkampf ermüdet sei und zügige Verhandlungen mit einem raschen Abschluss erwarte. Sachfragen würden deshalb nicht immer ausdiskutiert, sondern mit einem Formelkompromiss wie "man werde etwas prüfen" beantwortet.
So sei es auch diesmal gewesen, stellten die Gesprächsteilnehmer fest. Der Koalitionsvertrag enthalte zum Beispiel zur Klimakrise, in der Rentenfrage, zu den Lieferketten, zum Bürgergeld und zu Zurückweisungen an der Grenze vage Ankündigungen. Nicht selten mache ein Finanzierungsvorbehalt die Ankündigungen unverbindlich. Hier und da seien Zugeständnisse an bestimmte Wählergruppen und Interessenverbände und der Einfluss von Länderinteressen zu vermuten.
Außenwirkung wichtig
Den Arbeitsgruppen komme es sehr auf die Außenwirkung des Koalitionsvertrags an. Die Bedeutung des Gruppenthemas solle offenbar in der Länge des Abschnitts im Vertrag deutlich werden. Während laut Thomas de Maizière in der Regel zu Beginn der Beratungen ein Umfang von 30 bis 40 Seiten vereinbart werde, hat der Vertrag jetzt 144 Seiten. Nach den Beratungen von CDU, CSU und SPD 2018 waren es sogar 176 Seiten; nur wenig davon sei damals umgesetzt worden.
Sparsamer seien die Koalitionäre mit den Regierungsämtern umgegangen. Im Koalitionsvertrag seien der CDU sieben, der CSU drei und der SPD sechs Ministerposten zugestanden worden. Insgesamt entspricht das der Anzahl der Ministerposten in der Ampelregierung. Die Zahl der Beauftragten und Koordinatoren wurde dagegen von 60 auf 35 gekürzt.
Im nächsten Stammtischgespräch soll über “Die Grenze – ihre Chancen und Risiken” gesprochen werden. Die Entscheidungen der neuen Regierung zur Migrationspolitik und die verschärften Grenzkontrollen haben Kehl und die Kehler besonders betroffen.