Interview: "Kriegsenkel" erben die Angst der Eltern
Was geht den Deutschen fernab von der politisch-historischen Bedeutung heute noch der Zweite Weltkrieg an? Der Journalistin und Autorin Sabine Bode ist es mit dem Bestseller »Kriegskinder« gelungen, den Blick auf ein grauenhaftes Kapitel deutscher Geschichte neu zu justieren. Wie sind die Kriegskinder mit den Erlebnissen umgegangen? Im Nachklapp zu ihrem Buch traten dann die Kinder dieser Kriegsgeneration an Sabine Bode heran und erzählten unglaubliche Geschichten. »Die Erlebnisse der Kriegsgeneration lebt in deren Kindern weiter«, sagt Bode im Interview mit der Mittelbadischen Presse. Keine Frage: Der Krieg wirkt nach. Mit dem Interview startet die Mittelbadische Presse eine sechsteilige Serie zum Zweiten Weltkrieg.
Frau Bode, was gehen uns heute noch die beiden Weltkriege an?
Sabine Bode: Der Erste Weltkrieg begann vor 100 Jahren und der Zweite Weltkrieg endete vor knapp 70 Jahren. Das ist für den Großteil der Bürger nicht mehr greifbar, und trotzdem beschäftigen wir uns damit mehr denn je. Das ist schon verblüffend.
Und warum ist das so?
Bode: Nach Jahrzehnten der historischen Aufarbeitung und der damit einhergehenden Distanzierung von Hitler-Deutschland ist uns ein kultureller Neustart gelungen. Darauf können wir als Deutsche sehr stolz sein.
Dann könnte man doch die Kriege auf sich beruhen lassen.
Bode: Die Aufarbeitung war – ohne es jetzt abwerten zu wollen – eher akademisch geprägt. Im Großen und Ganzen haben wir es den Historikern und Publizisten überlassen, die Geschichte zu erklären und zu bewerten. Das überwiegende Schweigen in den Familien konnte so nicht gebrochen werden. Seit einigen Jahren hat jedoch die emotionale Aufarbeitung in den Familien begonnen. Und deshalb sind die Kriege selbst nach 70 oder 100 Jahren weiterhin interessant. Und das Verblüffende daran ist, dass vor allem die Generation der Kriegsenkel sehr aktiv ist.
Kriegskinder, darunter lässt sich ja was vorstellen, aber Kriegsenkel, was sind das genau?
Bode: Fein säuberlich lässt sich das nicht definieren. Also für mich müssen die Eltern dieser Kriegsenkel-Generation zwischen 1928 und 1945 geboren sein. Dann spielt es keine Rolle, ob die Kinder 1965 oder 1982 zur Welt kamen. Es betrifft übrigens nicht die komplette Generation, sondern ich schätze mal ein Drittel.
Das sind sehr viele Menschen. Woran merken die Angehörigen dieser Generation, dass die Kindheit der Eltern auch ihr Problem ist?
Bode: Kriegsenkel berichten von schwierigen Beziehungen zu ihren Eltern, für deren Wohl sie sich schon als Kinder in unerklärlicher Weise verantwortlich fühlten. Bis heute ist das so. Dennoch lautet ein häufiger Satz: Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen. Da geht es zudem um ein verunsichertes Lebensgefühl, Bindungsprobleme, unauflösbare Ängste und Blockaden. Das Gefühl irgendwie nicht dazuzugehören überwiegt.
Und warum beschäftigen sich die »Enkel« nach 40 bis 50 Lebensjahren plötzlich mit der Geschichte ihrer Eltern?
Bode: Sie stehen in der Mitte ihres Lebens, oft gehen Ehen in die Brüche oder beruflich kommt es zu einer Umorientierung. Die Beschäftigung mit den Wurzeln ist auch typisch für das Alter. Dabei haben sie festgestellt, dass ihr Familienleben ihnen ein Rätsel blieb. Es wäre ihnen aber nie in den Sinn gekommen, dass die Kriegserlebnisse ihrer Eltern etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben.
Wie kamen die Kriegserlebnisse in die Köpfe der Enkel-Generation?
Bode: Fangen wir bei den Kriegskindern an: Sie haben mir Verheerendes erzählt. Doch die meisten von ihnen hatten nicht das Gefühl, dass es besonders schlimm war. Da hatte sich ein Kindergefühl gehalten: Was allen passiert, ist für Kinder normal. Im Sinne von: Manchmal fällt eine Bombe aufs Haus, ab und zu geht man auf die Flucht. Man muss sich das wie eine Betäubung vorstellen. Sie sagten immer: »Andere haben es schlimmer gehabt.« Über das Eigene wurde geschwiegen oder es gab ein paar Anekdoten. Haben diese als Kinder traumatisierten Erwachsenen selbst Kinder, merken bereits ihre Babys die seelische Schwäche der Mütter und Väter.
Und was passiert da konkret?
Bode: Kinder versuchen alles, um die Traurigkeit und Unzufriedenheit der Eltern abzumildern, ihnen alles recht zu machen. Sie wollen perfekt sein, um den Eltern zu gefallen. Als Erwachsene kümmern sie sich dann um ihre Eltern, ohne dass eine richtige Abnabelung stattfand. Das hat verheerende Folgen, wenn die Eltern gegen Ende ihres Lebens tatsächlich die Hilfe der Kinder benötigen. Die nicht-abgenabelten Söhne und Töchter sind völlig untauglich, wenn es darum geht, für die Eltern die Zügel in die Hand zu nehmen und den Eltern noch einen angenehmen Lebensabend mitzugestalten.
Was heißt »untauglich«?
Bode: Es gibt die Phase, dass die Eltern die Zügel nicht hergeben wollen. Aber irgendwann muss man sagen, so jetzt ist Schluss. Die Kinder halten diesen langen verletzungsreichen Prozess nicht aus, weil sie sich immer noch selbst als kleine Kinder wahrnehmen. Die Eltern reiten auf den Fehlern der Kinder herum. Der Satz »Du hattest es offenbar zu gut« frisst sich in die Seelen der Kinder ein. Eine solche Situation kann Familien komplett zerstören.
Wie können Kriegsenkel aus dieser Situation herauskommen?
Bode: Der wichtigste Schritt ist, sich vorzustellen, was die Eltern als Kinder und Jugendliche erlebt haben können, und ihnen dann Fragen zu stellen. Das Ergebnis könnte sein: Früher habe ich mich geschämt für meine Ängste. Jetzt begreife ich: Ich habe die Ängste meiner Eltern geerbt.
Wenn das Kriegsenkel-Dasein tatsächlich ein solches Problem darstellt, dann hat das nicht nur individuelle Auswirkungen, sondern auch gesellschaftliche. Schließlich betrifft das eine ganze Generation. Gibt es da bereits Untersuchungen und Erkenntnisse?
Bode: Leider nein. Es gibt eine interessante Aussage von Otto Scharmer, einem Zukunfts- und Friedensforscher. Überall auf der Welt nehmen die Kriegsgenerationen ihre Erfahrungen in die Erziehung der Kinder mit. Die Maxime lauten: Mach was Sicheres, gehe kein Risiko ein, bloß nicht Theaterregisseurin werden, lieber Beamte. Sie entmutigen ihre Kinder, wollen aber natürlich ihr Bestes.
Das hört sich schrecklich an.
Bode: Scharmer vertritt die Ansicht, dass die Eltern mit ihren Kriegserfahrungen die Zukunftspotenziale ihrer Kinder nicht erkennen und sie daher auch nicht fördern können. Die Kinder brauchen das Glück, dass sie in jungen Jahren Mentoren finden.
Wie wirkt sich das konkret auf die Kriegsenkel aus?
Bode: Vor allem Frauen lassen sich oft massiv verunsichern. Die machen eher eine Berufsausbildung nach der anderen, statt in einem Beruf Erfahrungen zu sammeln. Das sind oft jene in der Erwachsenenbildung, die hochqualifiziert sind, aber schlecht bezahlt werden. Verlieren sie ihren Beruf rutschen sie meist in die Armut ab, weil ihnen das Selbstwertgefühl fehlt. Das Selbstwertgefühl bildet sich im Elternhaus aus. Aber da haben sie so etwas nur unzureichend mitbekommen.
Wenn ich Ihr Buch so durchlese, kommt die Kriegsgeneration nicht gut weg. Hat diese Generation von Eltern versagt?
Bode: Mit dem Begriff des Versagens bin ich natürlich unzufrieden. Mir ist wichtig, dass ich die Eltern nicht an den Pranger stellen möchte. Die Kriegsgeneration hat für ihre Kinder alles getan, was ihr möglich war. Deshalb sind sie ja auch so schockiert, wenn die Kinder ihnen plötzlich Vorwürfe machen. Aber die Eltern konnten und wussten es nicht besser. Als sie Kinder waren, ging es ums Überleben, da war keine Zeit, sich um Gefühle zu kümmern. Es wurde nicht geklagt, nicht geweint und nicht getrauert.
Weil deren Eltern im Ersten Weltkrieg auch nicht das Rüstzeug für das Leben mitbekommen haben.
Bode: Dazu passt eine kleine Geschichte aus meinem Leben, die ich sehr typisch finde. Ich bin 1947 geboren. Unser Pfarrer hat einen langweiligen Konfirmandenunterricht gemacht. Wir mussten ständig Bibelstellen auswendig lernen. Also langweiliger geht es nicht für 14-Jährige. Nach 25 Jahren haben wir uns alle noch einmal getroffen. Da sagte der Pfarrer, er habe versagt, weil er uns zum Auswendiglernen gezwungen hat. Doch das sei falsch gewesen. Er hätte uns beibringen müssen, wie Christen zusammenleben. Aber er hat die russische Kriegsgefangenschaft damit überlebt, Psalme und Bibelstellen auswendig zu lernen. Ihm hat das Auswendiglernen geholfen, uns nicht.
Wie sind Sie in das Thema Kriegskinder und Kriegsenkel selbst verstrickt?
Bode: Eigentlich gar nicht. Ich komme aus einer Nazi-Familie. Natürlich haben meine Eltern auch unschöne Dinge erlebt, aber sie sind gut durch den Krieg gekommen. Sie waren einfach frustriert, dass dieser Krieg verloren ging. Bis zu ihrem Tod haben sie sich von dieser Haltung nicht distanziert.
Man kann auch nichts anderes erwarten, sonst hätten Ihre Eltern das eigene Leben verleugnet. Das geht nicht, wenn man weiterleben möchte.
Bode: Ja und nein. Sie haben eben ihr Verstricktsein geleugnet. Für mich als Heranwachsende war die Schuldfrage das allergrößte Problem. Man spürt ja, wenn man angelogen wird. Man wollte sich ja nicht seiner Eltern und seines Landes schämen, sondern auf beide stolz sein. Das hat mich lange belastet. Die von den Eltern übernommene Schuld, die kenne ich sehr gut. Die bin ich dann Gott sei Dank losgeworden.
Das Interesse für Ihre Themen liegt im Elternhaus begründet?
Bode: Sicherlich. Eines meiner ersten Wörter als Kind war »Krieg«. Bei mir ging es nicht wie bei den Kriegskindern und Kriegsenkeln um das Leid, sondern um die Verstrickung in die Schuld.
Wir haben vorhin über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Traumatisierungen gesprochen. Lässt sich das näher konkretisieren.
Bode: Es gibt in allen Gesellschaften, die nach einer Katastrophe versuchen, sich in die Normalität zu transformieren, den Hang zum Schwarz-Weiß-Denken. Das Trauma bekommt eine kollektive Komponente. Ich fand dieses Schwarz-Weiß-Denken völlig normal, bis ich im Ausland andere Denkweisen kennengelernt habe. In den USA ist es selten fünf Minuten vor Zwölf, da gibt es auch kein Entweder-oder, sondern noch andere Wege dazwischen. Auch in der politischen Diskussion geht in Deutschland oft darum, den Gegner niederzumachen, statt ihn ins Boot reinzuholen. Oder man überzieht eine Fußball-Mannschaft während der WM mit ständiger Kritik, statt sie zu ermuntern. Als Sieger sind sie dann Helden. Schwarz oder Weiß.
Hier geht's zu unserer interaktiven Ortenau-Karte zum Zweiten Weltkrieg.
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Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will, meinte der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom in seinem Roman »Rituale«. Und so, wie man den Hund nicht mehr los wird, so kleben Erinnerungen an Menschen ein Lebenlang wie Kletten. Vor allem die Kindheitserinnerungen sind unvergesslich. Für die Kriegsgeneration ist der Hund oftmals auch böse gewesen. Der Tod, die Angst vor Bomben und feindlichen Soldaten sowie die Ungewissheit, ob der Vater zurück aus dem Krieg kam, dominierte die Kindheit. Flüchtlinge aus Preußen, Pommern und Ostdeutschland wurde von den kämpfenden Truppen oftmals überrollt.
Die Mittelbadische Presse möchte die Geschichten dieser Generation nacherzählen. Im Mittelpunkt stehen weniger die analysierenden Berichte über die Geschehnisse, sondern vor allem die Menschen. Was haben die Betroffenen in den Bombenkellern, auf der Flucht, bei den Kämpfen oder bei der Einnahme ihrer Heimat durch die Alliierten erlebt? Wie war das Leben fernab von der Front?
Liebe Leserinnen und Leser, schreiben Sie uns, rufen Sie uns an, schicken Sie uns ein Fax oder eine Mail, wenn Sie mitteilen wollen, was Krieg für die Menschen bedeutet. Oder lassen Sie sich von Ihren Enkeln und Kindern überzeugen, wie wichtig es ist, zu wissen, wie Geschichte ein Leben verändern kann.
Aber der Mittelbadischen Presse geht es nicht nur um die Kriegsgeneration. Wie die Autorin Sabine Bode (siehe Interview links) in ihrer Dokumentation gezeigt hat, wirken die Kindheitserlebniss der Kriegsgeneration heute noch in deren Kindern nach. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihren Familien damit gemacht?
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