Fenster heute ohne Aussicht
Geschichte und Geschichtchen lassen sich rund um das Haus Hauptstraße 55 in Oberkirch schreiben, das zu den ältesten in der Stadt gehört. Bei den Restaurierungsarbeiten fand sich beispielsweise ein kleines Fenster in Richtung der benachbarten Greifen-Apotheke.
Das ehemalige Mersihaus in der Hauptstraße 55 ist im vergangenen Jahr umfassend von Rudolf Hans und Roswitha Zillgith saniert worden. Die neuen Eigentümer haben sich in den zurückliegenden Monaten auch mit der Historie des Hauses beschäftigt.
Im September 1689 wurde Oberkirch im Pfälzischen Erbfolgekrieg durch französische Truppen fast vollständig zerstört. Die Zerstörungen waren katastrophal. Der damalige Oberkircher Amtsschreiber verfasste danach eine »Designation derjenigen Gebäwen so im Ampt Oberkirch in anno 1689 in Zeit die frantzösische Armee darinnen gestanden durch selbige abgebrannt worden«.
Dazu schreiben auch Manuel und Susanne Finner aus Friesenheim auf ihrer Webseite »Baukunst Baden« unter www.badische-wanderungen.de: »Im Pfälzischen Erbfolgekrieg, namentlich am 10. September 1689, ward das arme Oberkirch wie fast alle Ansiedlungen in der (später) badischen Rheinebene planmäßig niedergebrannt (und die Bevölkerung vertrieben)! Das mittelalterliche Oberkirch, es sank dahin, für immer.
Herausragendes Beispiel dieser Kriegstaten ist das zerstörte Heidelberger Schloss. Ein Kerngebiet der Zerstörungen lag um Heidelberg und Mannheim, zu den Randgebieten des Krieges gehörte auch die Ortenau mit den zerstörten Städten Offenburg, Renchen, Oberkirch, Gengenbach. Ein behördlicher Erlass verbot den Wiederaufbau vor dem Frieden von Ryswijk 1697.
Trotzdem bauten einige Oberkircher Bürger ihre Häuser bereits vorher wieder auf. So war man bisher davon ausgegangen, dass die ersten Häuser im Jahre 1696 wieder erstanden. Durch Balkeninschriften ist dies im Gasthaus zur Sonne, der alten Schlosserei Hodapp am Bach, dem Haus Huber in der Gerbergasse und dem »Freche Hus« von Mattis Gebert belegt.
Zerstörung und Aufbau
1701 wurde das heutige Amtsgericht durch den Amtmann Johann Evangelista von Bodeck zu Elgau wieder aufgebaut, dessen Vorgängergebäude, von dem die Pläne erhalten sind, gerade ein Jahr vor der Zerstörung errichtet wurde. 1703 folgte das neue Spital in der Löwengasse, 1707 die Gerberei Heermann, während die weiteren Hausbauten überwiegend von 1720 bis 1740 erfolgten. Es hat also fast 50 Jahre gedauert, bis sich die Stadt von der Katastrophe erholt hatte.
Hans-Martin Pillin schreibt im Band I der Oberkircher Stadtgeschichte unter dem Blickwinkel, dass Ludwig XIV. 1701 den Spanischen Erbfolgekrieg vom Zaume brach, unter dem Oberkirch noch einmal zu leiden hatte, die Aufbauleistungen der Oberkircher Bürger in jener Zeit nicht hoch genug zu würdigen sind.
Aus Sicht Zillgiths sei dies denjenigen ins Stammbuch geschrieben, »die als Abriss- und Verdichtungsfanatiker es heute an jeglichem Respekt für die Leistungen unserer Vorfahren und dem Willen zur Erhaltung unserer historischen Altstadt fehlen lassen«. Durch die Restaurierung des Mersihauses sei nun eine noch ältere Inschrift entdeckt worden, nämlich die Jahreszahl 1691, die bisher die älteste nach der Stadtzerstörung darstellt. »FG (Franz Gönner)/ 1691/I.M.V.I. (Jesus, Maria und Josef)« heißt es dort. Bei den Res-
taurierungsarbeiten fand sich ein kleines Fenster in das Gässchen zwischen dem Mersihauses und der daneben liegenden Greifen-Apotheke, was augenscheinlich keinen Sinn macht, wenn man nach 50 Zentimeter Abstand auf die Wand des Nachbarhauses blickt. Die Erklärung erscheint einfach. Das Haus zum Greifen wurde nach bisherigen Erkenntnissen 1734 gebaut. Als der mutmaßliche Erbauer des Mersihauses, Franz Gönner, sein Haus 1691 baute, hatte man bis 1734 freie Sicht in die Hauptstraße und die Kirchgasse, bis diese 1734 zugebaut wurde.
STICHWORT
»Tote Zeit«
Als der frühere Eigentümer des Hauses Hauptstraße 55, Franz Gönner, 1691 wohl ohne Rücksicht auf einen behördlichen Erlass sein Häuschen aufbaute, wurde Innozenz XII. in Rom zum Papst gewählt. Eine seiner vielen Reformen befasste sich mit kalendarischen Fragen. Er war es, der den letzten Tag des Jahres auf den 31. Dezember – benannt nach Papst Silvester I. – und den ersten Tag eines Jahres auf den 1. Januar – als Neujahrstag – verbindlich festlegte. Bis zu diesem Zeitpunkt galt der 6. Januar als Jahresanfang und der 24. Dezember als Jahresende. Die »Zeit zwischen den Jahren« war eine »tote Zeit«.